| Presseinformation Nr. 016 / 2021

Präzisionstherapie bei Krebs

2002 war die Göttingerin Sarah B. die erste Patientin, die an der Universitätsmedizin Göttingen eine allogene Stammzelltransplantation erhielt. Zielgerichtete und personalisierte Therapien am UniversitätsKrebszentrum Göttingen helfen, Patient*innen mit hämatologischen Erkrankungen jetzt noch genauer behandeln zu können.

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Wiedersehen in Corona-Zeiten: Sarah B. und Prof. Wulf sehen sich nach 18 Jahren wieder. Foto: umg

(umg) Alle 15 Minuten erhält ein Patient in Deutschland die Diagnose „Blutkrebs“. Im April 2001 trifft es die damals 17-jährige Sarah B. Die Diagnose: Akute Lymphatische Leukämie. Sie ist die erste und jüngste Patientin, die an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) eine allogene Stammzellspende von einem nicht-verwandten Spender erhielt. Nachdem sie nach der ersten Chemotherapie einen Rückfall erlitten hatte, blieb als Behandlungsoption nur noch die Stammzelltransplantation. In ihrem Fall von einem Fremdspender, da aus der Familie niemand in Frage kam.

Die Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie (Direktor: Prof. Dr. Lorenz Trümper) der UMG ist eine von drei Kliniken in Niedersachsen, die allogene Knochenmark- und Stammzelltransplantationen bei Patient*innen mit Bluterkrankungen durchführt. Jedes Jahr behandelt die Klinik 160 Patient*innen zu ungefähr gleichen Teilen mit autologen (Eigenspenden) und allogenen (Fremdspenden) Stammzellpräparaten. Im Jahr 2020 hat die Klinik die 1.000 allogene Knochenmarkstransplantation durchgeführt. Vor allem durch personalisierte Therapiemöglichkeiten hat sich die Behandlung von Patient*innen mit Erkrankungen des blutbildenden Systems in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert, weil sie für die Patient*innen nicht mehr so belastend ist.

„An der UMG führen wir seit 1993 autologe und seit 2001 allogene Stammzelltransplantationen durch. Dabei hat vor allem die allogene Stammzelltransplantation in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen. Dies liegt darin begründet, dass die vorbereitende Therapie vor einer Transplantation inzwischen darauf abzielt, das „alte“ Immunsystem des erkrankten Patienten zu unterdrücken, um dann den Aufbau eines „neuen“ transplantierten Spenderimmunsystems mit möglichst geringen Nebenwirkungen zu erlauben“, sagt Prof. Dr. Gerald Wulf, Leitender Oberarzt der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der UMG. „Da die Häufigkeit von Krebserkrankungen mit dem Lebensalter deutlich zunimmt, ist diese Entwicklung vor allem für ältere oder vor-erkrankte Patienten eine entscheidende Verbesserung. Bei den häufigen Lymphom- und Leukämie-Erkrankungen sind mehr als die Hälfte der Patienten über 60 Jahre alt. Diesen Patienten können wir heute zelluläre Therapieverfahren mit der Chance auf Heilung anbieten, weil sie weniger belastend sind.“

Die Suche nach dem genetischen Zwilling

Sarah B. ist erst 17 Jahre alt, als sie die Diagnose „Akute lymphatische Leukämie“ im April 2001 bekommt. Bei einer Leukämie wird eine blutbildende Zelle durch Veränderungen der Erbsubstanz (Mutationen) bösartig, vermehrt sich unkontrolliert und verdrängt die Bildung gesunder Blutkörperchen im Knochenmark. Um der Erkrankung von Sarah B. entgegenzuwirken, wird eine Chemotherapie durchgeführt. Acht Wochen verbringt die Patientin für den ersten Therapiezyklus in der UMG. Ihre Mutter ist die ganze Zeit an ihrer Seite. Sie versucht ihrer Tochter den Rücken zu stärken und ihr Kraft zu geben, die belastende Therapie durchzustehen. Auch ihre Zimmernachbarin ist für die junge Frau eine echte Stütze. Ihr gemeinsames Motto: „Aufgeben is nich“. Zunächst sieht es gut aus, die Leukämie ist nach der Chemotherapie nicht mehr nachzuweisen. Doch nach einem halben Jahr der Schock: ein Rückfall und die Aussicht, dass die Krankheit immer wieder kommen kann. „Das war der schlimmste Fall, der eintreten konnte und wirklich schwer für mich. Als mich die Ärzte über die Transplantation aufgeklärt haben, war ich verzweifelt. Lange Zeit war ich davon ausgegeangen, dass ich niemals eine Transplantation brauchen würde und plötzlich war sie von jetzt auf gleich meine einzige Hoffnung. Um zu überleben, blieb mir nur diese eine Option, also entschied ich mich dafür“, so die heute 36-Jährige.

In der Familie wurde kein passender Spender gefunden. Die Übereinstimmung der Gewebemerkmale, sog. HLA-Merkmale, war zu gering. Die Suche nach einem Fremdspender gelingt, die damals 17-Jährige wird mit einer Hochdosistherapie aus Chemotherapie und Ganzkörperbestrahlung auf die Transplantation vorbereitet. Diese Behandlung, auch Konditionierung genannt, zielt darauf ab, die noch vorhandenen Leukämiezellen zu vernichten und gleichzeitig das Empfänger-Immunsystem zu schwächen, damit es das neue, gesunde Immunsystem des Spenders nicht abstößt. Die intensive Chemotherapie bringt die Immunabwehr der Patient*innen fast gänzlich zum Erliegen und setzt sie quasi auf Null. Vier Wochen verbringt Sarah B. isoliert im Einzelzimmer auf der Station „Holland“, einer hochtechnisierten Station der UMG, und wird von einem spezialisierten Team von Ärzt*innen, Pflegenden, Psycholog*innen und Physiotherapeut*innen betreut.  

Zwei kleine Beutel Leben

Bei der Transplantation werden Sarah B. gesunde Stammzellen ihres Spenders über die Vene gegeben, wie bei einer Bluttransfusion. Mit den Blutstammzellen erhält die Göttingerin die Stammzellen für ein neues Immunsystem und auch eine neue Blutgruppe. Bei der Auswahl der Spender*innen sind die Gewebemerkmale entscheidend. Je mehr sie übereinstimmen, desto geringer sind die Abwehrreaktionen des gespendeten Immunsystems gegen den Organismus des Empfängers. Sarah B.s neues Immunsystem möchte ihren Körper abstoßen. Sie hat Probleme mit dem Darm, Magen, Haut, Augen sowie den Nieren und muss bis zu 30 Tabletten am Tag nehmen. Heute, 18 Jahre später, sieht man Sarah B. nicht mehr an, welche belastende Zeit hinter ihr liegt. Einige Einschränkungen sind ihr allerdings geblieben. Trotz des heutigen Wissens um die Langzeitfolgen ist sie sich sicher: „Ich würde heute wieder genauso entscheiden wie damals“, sagt die heute 36-Jährige. Mit ihrem Spender hat Sarah B. inzwischen sehr regelmäßigen Kontakt. „Wir waren uns gleich sympathisch und es gab ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sein Blut fließt jetzt in meinen Adern und ich habe sogar seine Allergien geerbt, aber ich bin ihm extrem dankbar, dass ich durch seine Spende noch am Leben bin“, berichtet sie. Ihre Erfahrungen und ihre Geschichte hat Sarah B. in einem Buch verarbeitet. Auf 304 Seiten berichtet sie aus der Perspektive der 17-Jährigen von ihrem Weg durch die Krebstherapie und die Jahre danach.

„Heutzutage können wir aufgrund des technischen Fortschritts und der molekularen Diagnostik Möglichkeiten maßgeschneiderte Therapien anbieten, die schonender sind und nicht so viele Nebenwirkungen haben. Zukünftig wird die zielgerichtete Immuntherapie, wie beispielsweise mit CAR-T Zellen, eine immer stärkere Rolle spielen. Mit der neuartigen Therapie können wir körpereigene T-Zellen so umprogrammieren, dass sie auch Tumorzellen angreifen und eliminieren können, die zuvor einer Chemotherapie entgangen waren. Die CAR-T Zellen sind also ein weiterer Meilenstein für die personalisierte Krebstherapie“, sagt Prof. Dr. Lorenz Trümper, Direktor der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie der UMG. An der UMG wird diese Therapie als eines von 26 Zentren in Deutschland bereits seit zwei Jahren angeboten.

Das Programm für Stammzelltransplantation und Zelluläre Therapie an der UMG umfasst alle moderne Verfahren nach dem neuesten Standard „JACIE“ (kurz für „"Joint Accreditation Committee International Society for Cellular Therapy and the European Group for Blood and Marrow Transplantation") für Erkrankungen der Blutbildung an. Trotz dieser hohen Spezialisierung erfolgt die Behandlung integrativ: Die Patient*innen erhalten die Therapie des Lymphoms oder der Leukämie von der Diagnose im INDIGHO-Labor über die Systemtherapie bis zur abschließenden Transplantation aus der Hand eines Teams. So wird sicher gestellt, dass die Patient*innen auf ihrem Weg durch die Behandlung gut bekannt sind und die Behandlung jederzeit verfolgt, abgewogen und angepasst werden kann. Ein wissenschaftlicher Schwerpunkt der Klinik für Hämatologie und Medizinische Onkologie liegt auf der Erforschung und Behandlung fortgeschrittener Lymphome, hier ist sie ein international anerkanntes Zentrum.

ERKRANKUNGEN DES BLUTBILDENDEN SYSTEMS

Jedes Jahr erkranken allein in Deutschland etwa 13.700 Menschen an Blutkrankheiten, wie zum Beispiel Leukämie. Bei Leukämie werden „unreife“ – also nicht funktionstüchtige – weiße Blutkörperchen gebildet, die sich unkontrolliert vermehren. Dadurch kann das Blut seine lebenswichtigen Aufgaben nicht mehr erfüllen, wie zum Beispiel den Sauerstofftransport oder die Infektionsabwehr. Der Heilungsprozess ist langwierig und belastend. Trotz neuer Therapieansätze kann vielen dieser Patient*innen nur eine Stammzellspende das Überleben ermöglichen. Dazu muss ein geeigneter Spender mit übereinstimmenden Gewebemerkmalen gefunden werden. Die Mehrheit der Patient*innen ist dabei auf die Spende nicht verwandter Freiwilliger angewiesen. Für 75 Prozent der Patient*innen kann mittlerweile innerhalb von drei Monaten ein passender Spender gefunden werden.

WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
UniversitätsKrebszentrum Göttingen (G-CCC)
Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftskommunikation
Mandy Sasse, Telefon 0551 / 39-62152
Von-Bar-Straße 2/4, 37075 Göttingen
ccc@med.uni-goettingen.de, gccc.umg.eu

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